Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
„Das
hier ist auch Deutschland“
Ein
Tag auf dem Planeten Sonnenallee
Sie haben die
größten Torten, die größte WM-Deutschlandfahne und nirgendwo
werden mehr Sprachen gesprochen als hier. Ein Besuch von sechs Uhr
früh bis Mitternacht an Neuköllns bekanntester Straße
Von Uta Keseling,
Berliner Morgenpost, 08.08.2010
Die Stunde der
Frauen
6 Uhr. Mirjeta und
ihre Mutter spülen die dreckigen Teller im "Imbiss Europa",
es sind viele, der Abend war lang an der Sonnenallee. Der Imbiss
gehöre den Eltern, sagt Mirjeta, sie ist 16, die Mutter schaut
unsicher, sie spricht wenig Deutsch. 1993 sind die Eltern aus dem
Kosovo nach Deutschland gekommen. Tochter Mirjeta ist hier geboren.
"Ich bin echte Berlinerin!" Sie lächelt.
"Europa",
im Schild des Restaurants leuchten gelbe EU-Sterne, als befinde sich
hier, an der Sonnenallee, der Übergang in die EU. In ein besseres
Leben. Vielleicht ist es so. Mirjeta sagt: Bis vor Kurzem habe sie
Schauspielerin werden wollen, ein Berufspraktikum erdete den Plan,
"Kindergärtnerin wäre auch gut." Sie fügt hinzu: "Und
auf jeden Fall in Berlin."
Mirjeta erklärt die
Welt an der Sonnenallee. "An dieser Ecke ist alles albanisch",
sie deutet auf Bars und Cafés, wo Frauen Terrassentische und Stühle
aufstellen. Weiter hinten beginnt der arabische Teil, der als
Beispiel für jene Parallelwelten gilt, die beschworen werden, wenn
es um gescheiterte Integration geht. Die Ladenschilder sind auf
Arabisch, die Bürgersteige von mittags bis spät in die Nacht
bevölkert von Männern, die nicht mehr tun als zu palavern oder zu
spielen, viele mit Wasserpfeifen, manche in den Gewändern der
strenggläubigen Muslime. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky
erklärt die Sonnenallee so: Die Straße gelte als arabisch
dominiert, mehr als die Hälfte der Anwohner habe einen
"Migrationshintergrund", in den Grundschulen sogar bis zu
95 Prozent, "der Rest ist Biologie".
Hinterhöfe ohne
Hoffnung
7 Uhr. Zwischen
"Albanien" und "Arab Town" steht ein
Jugendstil-Tor offen. Neben dem Hauptportal erzählen gleich zwei
Dienstboteneingänge von den sozialen Verhältnissen zur Gründerzeit.
Im ersten Hinterhof hängt Weichspülerduft schwer über stehen
gelassenen Möbeln, zwischen den Fenstern trocknet an langen Leinen
die Wäsche einer Großfamilie. Was Touristen in Neapel romantisch
finden, in Neukölln wirkt es verwahrlost. Ein Aushang am schwarzen
Brett der Hausverwaltung führt in verschwurbeltem Deutsch die Welten
vor, die hier aufeinanderprallen: "Der neuralgische Punkt bei
jeder Servicedienstleistung ist die Kommunikation."
Nirgendwo in der
Stadt wohnen mehr Menschen auf weniger Platz zusammen als an der
nördlichen Sonnenallee, nirgendwo sind die Gebäude in schlechterem
Zustand, ergab gerade eine Studie von Stadtplanern für den Senat,
der prüft, ob das Viertel Sanierungsgebiet werden soll.
Das arabische Brot
der Frühe
8 Uhr. Der erste
Mann des Morgens ist Ali El-Khatib. Der Koch lässt zwischen den
mehligen Händen hauchdünne Vollmonde hin und her fliegen:
"Manakish", arabisches Fladenbrot. "El-Daia", der
Namen des winzigen Restaurants bedeutet "das Dorf". Hier
wird nicht orientalisch getafelt wie beim Kalifen, sondern
gefrühstückt wie beim arabischen Bauern. Brot, Gemüse,
Kichererbsen, Tee. Ali El-Khatib arbeitet mit seinem Bruder Khoder,
sie stammen, wie die meisten hier, aus dem Libanon. Khoder kam vor 16
Jahren und lernte sein Deutsch als Kellner in italienischen
Pizzerien. Ali kam später und spricht kaum Deutsch. Im arabischen
Dorf braucht er es nicht.
Ali reicht das
Frühstück seinem ersten Gast durch die Imbissluke, es schmeckt
köstlich, salzig und frisch, wegen der Minze. "Stimmt, aber vom
arabischen Frühstück allein können wir nicht überleben" -
Komplimente, die auf den Reiz des Fremden abzielen, will Kellner
Khoder nicht hören. "Abends essen arabische Familien zu Hause
und die Deutschen finden unser Essen komisch." Außerdem seien
die Preise an der Sonnenallee ein Witz. Was muss sich denn ändern,
im Land, in der Politik? "Renovieren! Neue Tische!", bricht
es aus ihm heraus, er hat die Frage missverstanden, aber die Antwort
ist trotzdem schön. Neue Tische, an denen alle gemeinsam sitzen? Der
Kellner nickt. Er will nach der Renovierung Pizza anbieten. Die mögen
alle.
Ein Schweißer fürs
Soziale
9 Uhr. Erster
Frühstücksgast im arabischen Dorf ist Miro Ismir, 36 Jahre alt,
auch er im Libanon geboren. Er ist Schweißer von Beruf. Eigentlich.
Das Jobcenter hat ihm eine andere Arbeit vermittelt: "Sozialberater."
Pause. Stolz klingt anders. Seit zwei Jahren versucht er, den
Bewohnern des benachbarten Rollbergviertels bei ihren vielfältigen
Behördenproblemen zu helfen. "Widersprüchliche Bescheide,
falsche Auskünfte, zu Unrecht verweigertes Geld."
Ismirs Deutsch ist
mäßig, aber vielleicht ging es darum nicht, als man den Schweißer
zum Sozialhelfer machte. Nirgendwo in der Stadt empfangen mehr
Menschen "Transferleistungen" vom Staat als in
Nord-Neukölln. Mehr als 60 Prozent dieser "Leistungsempfänger"
haben keinen Beruf gelernt. Nur, ob Herr Ismir auch solche Risse in
der Gesellschaft zusammenschweißen kann? "Ich verstehe die
Politik nicht", sagt er. "Warum sollen nur noch Leute mit
festem Einkommen Kindergeld bekommen? So werden die Armen noch
ärmer."
Handys wachsen auf
Bäumen
10 Uhr. Ali, der
zweite: Auch dieser erzählt, wie er im Glauben an eine bessere
Zukunft herkam. Er war 16. Auch er stammt aus dem Libanon. Seinem
Äußeren nach - Shorts, Turnschuhe, T-Shirt - gehört er zum Heer
jener, die an der Sonnenallee tagtäglich vergeblich auf das bessere
Leben warten, auf Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis, einen
Arbeitsplatz. Aber er hat einen Aushilfsjob, immerhin.
Sein Weg führte
über Italien und andere Länder. "Ich wollte immer nach Berlin.
Hier gehst du zur Polizei und bekommst dein Recht, im Libanon bekommt
Recht, wer mehr zahlt." In Beirut gab es "zu viel
Kriminalität und keine Chancen, außer, du lässt dich von der
Hisbollah anheuern, von Terroristen". Seine türkischstämmige
Frau, erzählt Ali, hole gerade den Realschulabschluss an der
Abendschule nach. Ein Sieg: "Ihre Familie meinte, ein
Ein-Euro-Job sei genug Perspektive für eine junge Frau."
Auch Ali hält
Distanz zu den Seinen, nicht nur, weil sie weit weg im Libanon leben.
Sie hätten ihn zu oft nach Geschenken gefragt, einer wollte sogar
ein Handy. "Als ich sagte, das sei zu teuer, meinte er: 'Dann
such' eben auf der Straße! Oder im Müll!'" Ali lacht. "Sie
glauben, hier wachsen die Handys auf Bäumen." Dann schaut er
auf die Straße, seine Straße, die Sonnenallee, und sagt: "Wenn
mich jemand fragt, wie alt ich bin, sage ich: sechs Jahre. So lange
bin ich jetzt hier. Es ist, als wäre ich noch einmal geboren."
Das Basar-Prinzip
11 Uhr. "Sultan
Zwei" gibt es dreimal an der Sonnenallee: Ecke Weichselstraße
hat eine neue Bäckerei direkt neben der alten gleichen Namens
eröffnet. Die Ur-Filiale des Sultans ist ein typisch türkischer
Fladenbrotladen und liegt weiter südlich. Die neuen Geschäfte geben
sich international: Börek, Schrippen, Croissants, die Bedienungen
tragen teils Kopftuch, teils keins und sprechen türkisch und
deutsch. Ähnliche Entwicklungen haben viele Läden durchgemacht -
alle wollen nach Norden an die Allee. So gibt es jetzt drei
Hochzeitsgeschäfte in direkter Nähe, etwas weiter drei Shisha-Bars.
Ecke Pannierstraße steht an gleich drei Läden "Spätkauf".
Das Basarprinzip: Wo einer Erfolg hat, wird bald der nächste
eröffnen. Lohnt sich dieser Kampf um den besten Platz an der
"Sonne"?
König der
Sonnenallee
12 Uhr. Das Paradies
an der Sonnenallee heißt "Galerie El-Salam Style" und hat
ab zehn Uhr geöffnet. Ein Einrichtungsgeschäft mit glitzernden
Kristalllüstern, viel Stuck und Gold, strassverzierten
Couchgarnituren und allerlei Nippes, der in goldener Schrift die
Namen Allahs und seines Propheten trägt. Auch das Paradies ist von
einem früheren Standort nach Norden gezogen. Die Omairats sind in
der zweiten Generation hier an der Allee, sagt Inhaber Shukry
Omairat. Und erfolgreich. Seit dem Tod des Vaters führt er das
Einrichtungsgeschäft und eine Bäckerei, sein Bruder eine
Fleischerei und eine Shisha-Bar. Grundstein des Erfolgs war die
XXL-Variante der süßen arabischen Torten. Omairat arrangiert sie zu
riesigen Türmen, die Luxusversion in XXXL mit echtem Wasserfall
kostet 1000 Euro. So wurde er Tortenkönig von Neukölln. "Heute
liefern wir bis nach Bremen oder Essen."
Omairat sorgt für
neun Kinder plus Mutter und Schwiegermutter, die beide verwitwet
sind. Erfolg ist das eine, was zählt an der Sonnenallee, das andere
ist die Familie. Auch hier gilt das orientalische Prinzip, das
deutsche Sozialexperten zur Verzweiflung treibt: je größer, desto
besser. Die Großfamilie lebt parterre im Süden Neuköllns. Fünf
Zimmer, zehn Personen, das abgelebte Treppenhaus lässt nicht ahnen,
was sich hinter der Wohnungstür verbirgt: goldverzierte Decken,
Glitzer und arabische Muster - das Orient-Paradies im Kleinformat.
Nicht die Verhältnisse des Tortenkönigs sind XXL, sondern sein
Traum vom besseren Leben.
Omairat war sieben,
als er mit seinen Eltern nach Baden-Württemberg kam. Der einzige
Ausländer in der Klasse, so lernte er Deutsch. Seine Kfz-Lehre
musste er abbrechen, als die Eltern umzogen, um an der Sonnenallee
ihr Glück zu suchen. "Seitdem habe ich mich hochgearbeitet."
Seine 19-jährige
Tochter, sagt Omairat, habe gerade geheiratet, "sie war verliebt
und wollte es so", er schaut nicht glücklich. Und der älteste
Sohn? "Er ist 18 und denkt vor allem an Sport." Er fügt
hinzu, er wisse nicht, warum die Jugend an der Sonnenallee heute so
anders sei als er im selben Alter.
Heute reist Omairat
als Geschäftsmann nach China. Er begeistert sich für den Fleiß der
Chinesen: "In der einen Stadt stehen ganze Hochhäuser mit
Lampengeschäften. In der nächsten gibt es unendliche Auswahl an
Couchgarnituren. Die Chinesen werden selbst mit Knöpfen Millionäre!"
Auch die Chinesen wollen es XXL, allerdings, das sieht auch der
Tortenkönig so, ist das Leben dort ein noch härteres Brot als an
der Sonnenallee.
Wer integriert hier
wen?
13 Uhr. Der Klang
von Kirchenglocken mischt sich in den arabischen Pop aus den
Shisha-Bars. Zwei bärtige Männer sitzen in langen Gewändern im
Schuhladen "Neukölln Sport". "Shox" heiße das
begehrteste Modell, erklärt der junge Verkäufer, sein Name: Ali. Er
sagt, dass man Turnschuhe gut zur traditionellen Kleidung tragen
könne. Sein älterer Freund heißt ebenfalls Ali, allerdings erst
seit drei Jahren. Konvertit Ali, 65, stammt aus Hessen und lebt seit
30 Jahren in Berlin. Die Alis kennen sich aus der Moschee, sagen sie.
Rund 20 Moscheen gibt es allein im näheren Umfeld, die
Kirchengemeinden lassen sich an einer Hand abzählen.
Dann bricht Ali, der
Ältere, auf zu einem Spaziergang an der Allee. Er grüßt oft, aber
nicht alle erwidern den Gruß. Vielleicht ist sein Blick zu direkt,
sein Schritt zu ausgreifend, getrieben von dem Wunsch, den hier fast
alle haben - dazuzugehören. Wer integriert hier wen?
Die Frage wurde
weltweit diskutiert, als arabische Händler zur WM eine riesige
Deutschlandfahne an der Sonnenallee hissten wie ein haushohes
Ausrufezeichen. Linke Aktivisten rissen sie zweimal herunter,
unterstellten den Einwanderern deutsch-gestriges Gedankengut. Sogar
das israelische Fernsehen kam. Die Fußballfans verteidigten sich:
"Wir sind Deutsche, das hier ist auch Deutschland!"
Mittlerweile liegt das Symbol im Schaufenster. Es soll für einen
guten Zweck versteigert werden.
Berlin-Mythos,
reloaded
14 Uhr. Eine Brigade
blonder Bauarbeiter strebt auf ein rotes Schild zu: "City
Chicken", darunter arabische Schriftzeichen. Die Männer
sprechen polnisch und bestellen auf Deutsch. Ein junges Paar stellt
am Tisch nebenan seine Rucksäcke ab, in der Außentasche der "Lonely
Planet Berlin", sie küssen sich: am Ziel. Nebenan wirbt ein
Schild: "Ferienwohnungen". Das ist neu. An der benachbarten
Karl-Marx-Straße hat im Februar ein Backpacker-Hostel eröffnet, das
Bett ab zehn Euro. Die Gäste kämen aus Kanada, Australien und den
USA, heißt es am Empfang. Stören die Verhältnisse rundum? "Nein,
die Touristen hätten es gern noch abgerissener und mit besetzten
Häusern." Der Berlin-Mythos in seiner vierten Wiedergeburt:
Nach Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ist jetzt Neukölln
dran.
Onkel für jede
Lebenslage
15 Uhr. Vor den
Shisha-Bars leuchtet, wie bunte Punkte, Neuköllns Jugend in Basecap
und Kopftuch. Sandy, Sara und ein junger Mann, der wiederum Ali
heißt, inhalieren tief. Die Straße ist vernebelt mit den süßen
Aromen der Wasserpfeifen. Sara, im blauen Kopftuch, ist die
Wortführerin. "Wir chillen hier gern", sie lächelt. Auch
sie jobbt in den Ferien im Imbiss von Verwandten. Für die Zukunft
hat sie einen konkreten Plan. "Ich werd' Gerichtsmedizinerin."
Die anderen kichern. Doch Sara bleibt ernst. Ein Onkel arbeite in dem
Beruf, Leichen gewaschen habe sie auch schon. "Und wenn du das
Studium nicht auf die Reihe kriegst?", fragt Sandy. "Dann
mach' ich ein Beerdigungsinstitut auf."
Die anderen beiden
schweigen auf die Zukunftsfrage. Was fehlt, um Jugendlichen, die
solche Onkel nicht haben, eine Perspektive zu bieten?
"Jugendzentren!", Sara und Sandy echauffieren sich im Chor.
"Der Staat muss jungen Menschen Selbstvertrauen und Perspektiven
geben."
Pioniere zwischen
den Stühlen
16 Uhr. Der Verein
"Blickwinkel" arbeitet genau daran. Den Raum haben die 25
Ehrenamtlichen sich selbst geschaffen, der Vereinsraum war ein
Beerdigungsinstitut, der Vermieter froh, dass sie kamen und
renovierten. Zwar nimmt der Besucher auf durchgesessenen Bürostühlen
Platz, deren zweite Karriere als mildtätige Spende spürbar ist.
Doch der Verein ist ein Erfolgsmodell. "Wir beraten bei
Problemen und geben Nachhilfe, 50 Kinder kommen täglich", sagt
Susanne Nadapdap vom Vereinsvorstand. "Für mehr reichen die
Kapazitäten nicht". Geld von Staat oder Kirchen gibt es nicht,
das neue Quartiermanagement um die Ecke ist offenbar an
Zusammenarbeit nicht interessiert. Die Pioniere vom "Blickwinkel"
nehmen auch im übertragenen Sinn einen Platz zwischen den Stühlen
ein. "Wir sind preiswert und erreichen so Familien, die anderen
Angeboten fern bleiben", sagt Nadapdap. Demnächst sei eine
Müttergruppe geplant. Eine Gelegenheit, die stille Reserve der
Sonnenallee zu aktivieren - die Frauen. Integration erscheint
plötzlich als einfache Gleichung: von Angebot und Nachfrage.
Das alte Neukölln,
das ganz alte
17 Uhr. Das alte
Neukölln, das ganz alte, gibt es auch noch, auch wenn laut Statistik
die Mehrheit im Viertel jung ist - zwischen 18 und 45 Jahren. Das
alte Neukölln, es dreht sich zu Schlagermusik im "Ambrosius"
um sich selbst. Das Lokal Ecke Reuterstraße war eine Bierschwemme,
meist rammelvoll und später am Abend flog der eine oder andere Gast
schon mal raus. Seit einigen Jahren hat ein Pizzeriawirt die
Geschäfte übernommen. Seitdem heißt "Ambrosius" im
Zweitnamen "Aquila" und es gibt Tischdecken.
Das alte Neukölln
traf sich hier nachmittags zum Tanztee, auch dabei flossen Bier und
Tränen, und heute - ist alles noch genauso. Das alte Neukölln, das
ganz alte, heißt heute Charlotte und Helmut, sie 92, er 67 Jahre
alt, in weißen Haaren und Hosen, so tanzen sie durch den Raum und
den Tag und das Lied, das der DJ für sie auflegt: "Ich seh dich
oft mit ihm / durch unsre Kneipen ziehn, / er hält dich fest in
seinem Arm, / ist glücklich, denn du strahlst ihn an..."
Weserrakete schießt
"Sonne" ab
19 Uhr. Die
Parallelwelt der Sonnenallee heißt Weserstraße, ein Teil des neuen,
angesagten "Kreuzkölln". Die Kneipen heißen hier
"Kuschlowski", "O Tannenbaum" oder "Freies
Neukölln", ein Spiel mit dem Eckkneipenambiente des alten
Neukölln. Gäste sind Studenten, Künstler, zunehmend auch aus
anderen Bezirken, und Touristen. Wenn besser gestellte Menschen in
schlechtere Viertel drängen - ist das nicht eine Art Selbstheilung?
Nein, sagen die Planer des Sanierungsgebiets und warnen vor der
Verdrängung ärmerer Anwohner. Bürgermeister Buschkowsky, der das
offene Wort liebt, entgegnet: "Eine gewisse Gentrifizierung
würde dem Stadtteil sicher gut tun."
Planet Sonnenallee:
Die einen bilden mit ihrem Lebensstil die Kulisse für die nächsten.
Sogar die New York Times lobte kürzlich das neue Neuköllner
Ambiente. Ähnlich sehen das auch die Kommunikationsdesignerin Eva
Kuch (33) und der Betriebswirt Hamit Özbek (36). Sie stammt aus dem
Westerwald, er aus Kreuzberg. Beide zogen wegen der preiswerten
Mieten her. Vor drei Jahren erfanden sie die "Weserrakete",
ein kleines, exklusives Musikfestival in den Szenekneipen der Straße.
Eine Alternative zur "singenden, klingenden Sonnenallee",
jenem Straßenfest, das Buschkowsky vergangenes Jahr abschaffte, weil
es geprägt sei "von ambulantem Gewerbe, Alkohol und aggressivem
Verhalten?"
Die beiden schütteln
die Köpfe. Die Weserrakete solle Künstler und Bewohner
zusammenbringen und der musikalischen Avantgarde Neuköllns einen
Auftritt geben, sagt Kuch. Beide bestätigen zwar, dass Räume für
Künstler kaum noch zu finden seien, aber es klingt gelassen. Das
Aufregende an Berlin sei, sagt Özbek, "dass es schon immer vor
allem mit einem beschäftigt war - mit der Gegenwart."
Lila Schachteln für
Ramadan
21 Uhr. Vor der
Bäckerei Toprak ist die zweite Stunde der Frauen an der Sonnenallee
angebrochen. Inhaberin Fatma Toprak sitzt mit Nachbarinnen,
Freundinnen und einer Schar Kinder vor dem Geschäft. Gemeinsam
falten sie lilafarbene Pappschachteln, ein ganzer Berg ist schon
fertig. "Ab nächste Woche ist Ramadan", sagen die Frauen,
"dann müssen Sie wiederkommen und sehen, was hier los ist!"
Es ist eine freundliche Einladung. Seit 20 Jahren hätten sie ihr
Geschäft hier, sagt Frau Toprak und lächelt, all das wird
vorgebracht in radebrechendem Deutsch. Sprache ist an dieser Allee
nur ein Werkzeug, nicht mehr, und die deutsche Kneifzange wird selten
benötigt. Wie um das zu illustrieren, deutet eine der Frauen auf die
Familie, die unter dem Baum vor der Bäckerei auf einem Mäuerchen
sitzt. "Die Bulgaren treffen sich jeden Tag hier, aber wir
kennen sie kaum. Die Mütter verstehen nur ein paar Worte Türkisch.
Aber unsere Kinder spielen miteinander!"
Es gibt also einen
Baum der Bulgaren. Und auch einen der Biertrinker. Der steht vor dem
Nettomarkt Ecke Weichselstraße und hat von früh um sieben bis spät
um 22 Uhr Konjunktur. Vor allem seit die meisten Geschäfte "halal"
sind, also aus religiösen Gründen keinen Alkohol mehr verkaufen.
Gegenüber bleiben zwei junge Touristen stehen und diskutieren auf
Französisch: Ob die kurzberockten Biertrinkerinnen unter dem
Biertrinkerbraum ein Fotomotiv sind? Von weitem erzählen Schminke,
Springerstiefel und wirre Frisuren von den besseren Tagen des Punk in
Berlin. Im Zoom der Kamera zeigen die Gesichter der Frauen, dass auch
der Alkohol mit zu dieser Geschichte gehört.
Das letzte Gebet
22 Uhr. Bis spät am
Abend sind die Bürgersteige voll. Alte Männer sitzen und rauchen,
junge Leute räumen Lebensmittel in die immer noch offenen Läden.
Plötzlich ein schrilles Hupen - auf einem Moped bahnen sich zwei
Halbwüchsige den Weg durch die Menge. Alle weichen aus, niemand
beschwert sich. Dann werden die Gespräche gedämpfter. Am
Straßenrand hält ein silberfarbenes Auto. Ein junger Mann hält
zwei älteren Herren mit Bärten und muslimischen Kopfbedeckungen die
Autotür auf. Eine ehrerbietige, fast unterwürfige Geste. Wer sind
diese Männer? Kurze Befragung der Umstehenden, betont gleichgültiges
Schulterzucken. Das letzte Gebet in den Moscheen sei gerade vorbei,
sagt einer. Als das Auto abfährt, schwillt der Lärm wieder an.
Autorität und
Gesetz
24 Uhr.
Polizeisirenen heulen auf und verklingen wieder. Die Einsatzwagen
starten an der Polizeiwache Ecke Wildenbruchstraße, manche fahren
nur um die Ecke zur Weserstraße, wo die Szenekneipen lärmen. Am
Hermannplatz sind es tagsüber die alkohol- und drogenabhängigen
"Gäste" des Wochenmarktes, die Verkäufern und Kunden auf
die Nerven fallen. Und wieder und wieder muss die Polizei wegen der
Dealer am benachbarten Kottbusser Damm anrücken. Kinder, die mit
Heroin handeln, werden abgeführt und sind doch oft wenig später
wieder da.
Der Polizeibericht
von der Sonnenallee selbst erzählt weniger von Drogen und
organisierter Kriminalität als eher vom Überlebenskampf der
Verzweifelten. Wo zu viele Menschen mit zu wenig Geld und
Perspektiven zusammen leben, werden Briefkästen aufgebrochen und
nach EC-Karten durchsucht, gibt es Überfälle, illegalen
Zigarettenhandel - "und häufig auch Einsatze wegen häuslicher
Gewalt", sagt Polizeidirektor Hans Steffen vom Polizeiabschnitt
54 an der Ecke Wildenbruchstraße.
Neukölln, so steht
es auf der Homepage des Abschnitts 54, "ist mit seiner wohl
einzigartigen Mischung aus Bürgern verschiedenster Nationalität und
Herkunft ein lebendiger und aufregender Bezirk. Die Mitarbeiter
widmen sich den Problemen daher mit einem besonders hohen Maß an
Toleranz, Offenheit und Bürgernähe". Doch wie kann man als
deutscher Beamter die Hilferufe im Babylon der Sonnenallee überhaupt
verstehen? "Wir arbeiten mit Dolmetschern", sagt Steffen
pragmatisch, "denn nur zwei unserer 220 Beamten an der
Wildenbruchstraße haben selbst einen Migrationshintergrund".
Je später der
Abend, desto größer werden die Menschentrauben vor den Wettbüros:
Männer. Die Glücklichen springen palavernd aus den Türen, die
Verlierer verschwinden im Dunkel oder in den Bars - auch hier sitzen
vorwiegend Männer. Nur vor einem Männercafé steht eine ältere
Dame mit Kopftuch, nachdenklich schaut sie aus dem Dunkel durch die
Tür ins Helle, wo die Männer sitzen, spielen und lärmen. Sie wird
keines Blickes gewürdigt. Es gibt kein Gesetz, das einer Frau
verbietet, diese Männerwelten zu betreten. Die Einhaltung der Regeln
an Orten wie der Sonnenallee wird dennoch streng bewacht. Wenn auch
nicht von staatlichen Autoritäten.
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