Reporter Forum Logo

Uta Keseling „Das hier ist auch Deutschland

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Das hier ist auch Deutschland“

Ein Tag auf dem Planeten Sonnenallee

Sie haben die größten Torten, die größte WM-Deutschlandfahne und nirgendwo werden mehr Sprachen gesprochen als hier. Ein Besuch von sechs Uhr früh bis Mitternacht an Neuköllns bekanntester Straße


Von Uta Keseling, Berliner Morgenpost, 08.08.2010



Die Stunde der Frauen

6 Uhr. Mirjeta und ihre Mutter spülen die dreckigen Teller im "Imbiss Europa", es sind viele, der Abend war lang an der Sonnenallee. Der Imbiss gehöre den Eltern, sagt Mirjeta, sie ist 16, die Mutter schaut unsicher, sie spricht wenig Deutsch. 1993 sind die Eltern aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen. Tochter Mirjeta ist hier geboren. "Ich bin echte Berlinerin!" Sie lächelt.

"Europa", im Schild des Restaurants leuchten gelbe EU-Sterne, als befinde sich hier, an der Sonnenallee, der Übergang in die EU. In ein besseres Leben. Vielleicht ist es so. Mirjeta sagt: Bis vor Kurzem habe sie Schauspielerin werden wollen, ein Berufspraktikum erdete den Plan, "Kindergärtnerin wäre auch gut." Sie fügt hinzu: "Und auf jeden Fall in Berlin."

Mirjeta erklärt die Welt an der Sonnenallee. "An dieser Ecke ist alles albanisch", sie deutet auf Bars und Cafés, wo Frauen Terrassentische und Stühle aufstellen. Weiter hinten beginnt der arabische Teil, der als Beispiel für jene Parallelwelten gilt, die beschworen werden, wenn es um gescheiterte Integration geht. Die Ladenschilder sind auf Arabisch, die Bürgersteige von mittags bis spät in die Nacht bevölkert von Männern, die nicht mehr tun als zu palavern oder zu spielen, viele mit Wasserpfeifen, manche in den Gewändern der strenggläubigen Muslime. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky erklärt die Sonnenallee so: Die Straße gelte als arabisch dominiert, mehr als die Hälfte der Anwohner habe einen "Migrationshintergrund", in den Grundschulen sogar bis zu 95 Prozent, "der Rest ist Biologie".

Hinterhöfe ohne Hoffnung

7 Uhr. Zwischen "Albanien" und "Arab Town" steht ein Jugendstil-Tor offen. Neben dem Hauptportal erzählen gleich zwei Dienstboteneingänge von den sozialen Verhältnissen zur Gründerzeit. Im ersten Hinterhof hängt Weichspülerduft schwer über stehen gelassenen Möbeln, zwischen den Fenstern trocknet an langen Leinen die Wäsche einer Großfamilie. Was Touristen in Neapel romantisch finden, in Neukölln wirkt es verwahrlost. Ein Aushang am schwarzen Brett der Hausverwaltung führt in verschwurbeltem Deutsch die Welten vor, die hier aufeinanderprallen: "Der neuralgische Punkt bei jeder Servicedienstleistung ist die Kommunikation."

Nirgendwo in der Stadt wohnen mehr Menschen auf weniger Platz zusammen als an der nördlichen Sonnenallee, nirgendwo sind die Gebäude in schlechterem Zustand, ergab gerade eine Studie von Stadtplanern für den Senat, der prüft, ob das Viertel Sanierungsgebiet werden soll.

Das arabische Brot der Frühe

8 Uhr. Der erste Mann des Morgens ist Ali El-Khatib. Der Koch lässt zwischen den mehligen Händen hauchdünne Vollmonde hin und her fliegen: "Manakish", arabisches Fladenbrot. "El-Daia", der Namen des winzigen Restaurants bedeutet "das Dorf". Hier wird nicht orientalisch getafelt wie beim Kalifen, sondern gefrühstückt wie beim arabischen Bauern. Brot, Gemüse, Kichererbsen, Tee. Ali El-Khatib arbeitet mit seinem Bruder Khoder, sie stammen, wie die meisten hier, aus dem Libanon. Khoder kam vor 16 Jahren und lernte sein Deutsch als Kellner in italienischen Pizzerien. Ali kam später und spricht kaum Deutsch. Im arabischen Dorf braucht er es nicht.

Ali reicht das Frühstück seinem ersten Gast durch die Imbissluke, es schmeckt köstlich, salzig und frisch, wegen der Minze. "Stimmt, aber vom arabischen Frühstück allein können wir nicht überleben" - Komplimente, die auf den Reiz des Fremden abzielen, will Kellner Khoder nicht hören. "Abends essen arabische Familien zu Hause und die Deutschen finden unser Essen komisch." Außerdem seien die Preise an der Sonnenallee ein Witz. Was muss sich denn ändern, im Land, in der Politik? "Renovieren! Neue Tische!", bricht es aus ihm heraus, er hat die Frage missverstanden, aber die Antwort ist trotzdem schön. Neue Tische, an denen alle gemeinsam sitzen? Der Kellner nickt. Er will nach der Renovierung Pizza anbieten. Die mögen alle.

Ein Schweißer fürs Soziale

9 Uhr. Erster Frühstücksgast im arabischen Dorf ist Miro Ismir, 36 Jahre alt, auch er im Libanon geboren. Er ist Schweißer von Beruf. Eigentlich. Das Jobcenter hat ihm eine andere Arbeit vermittelt: "Sozialberater." Pause. Stolz klingt anders. Seit zwei Jahren versucht er, den Bewohnern des benachbarten Rollbergviertels bei ihren vielfältigen Behördenproblemen zu helfen. "Widersprüchliche Bescheide, falsche Auskünfte, zu Unrecht verweigertes Geld."

Ismirs Deutsch ist mäßig, aber vielleicht ging es darum nicht, als man den Schweißer zum Sozialhelfer machte. Nirgendwo in der Stadt empfangen mehr Menschen "Transferleistungen" vom Staat als in Nord-Neukölln. Mehr als 60 Prozent dieser "Leistungsempfänger" haben keinen Beruf gelernt. Nur, ob Herr Ismir auch solche Risse in der Gesellschaft zusammenschweißen kann? "Ich verstehe die Politik nicht", sagt er. "Warum sollen nur noch Leute mit festem Einkommen Kindergeld bekommen? So werden die Armen noch ärmer."

Handys wachsen auf Bäumen

10 Uhr. Ali, der zweite: Auch dieser erzählt, wie er im Glauben an eine bessere Zukunft herkam. Er war 16. Auch er stammt aus dem Libanon. Seinem Äußeren nach - Shorts, Turnschuhe, T-Shirt - gehört er zum Heer jener, die an der Sonnenallee tagtäglich vergeblich auf das bessere Leben warten, auf Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis, einen Arbeitsplatz. Aber er hat einen Aushilfsjob, immerhin.

Sein Weg führte über Italien und andere Länder. "Ich wollte immer nach Berlin. Hier gehst du zur Polizei und bekommst dein Recht, im Libanon bekommt Recht, wer mehr zahlt." In Beirut gab es "zu viel Kriminalität und keine Chancen, außer, du lässt dich von der Hisbollah anheuern, von Terroristen". Seine türkischstämmige Frau, erzählt Ali, hole gerade den Realschulabschluss an der Abendschule nach. Ein Sieg: "Ihre Familie meinte, ein Ein-Euro-Job sei genug Perspektive für eine junge Frau."

Auch Ali hält Distanz zu den Seinen, nicht nur, weil sie weit weg im Libanon leben. Sie hätten ihn zu oft nach Geschenken gefragt, einer wollte sogar ein Handy. "Als ich sagte, das sei zu teuer, meinte er: 'Dann such' eben auf der Straße! Oder im Müll!'" Ali lacht. "Sie glauben, hier wachsen die Handys auf Bäumen." Dann schaut er auf die Straße, seine Straße, die Sonnenallee, und sagt: "Wenn mich jemand fragt, wie alt ich bin, sage ich: sechs Jahre. So lange bin ich jetzt hier. Es ist, als wäre ich noch einmal geboren."

Das Basar-Prinzip

11 Uhr. "Sultan Zwei" gibt es dreimal an der Sonnenallee: Ecke Weichselstraße hat eine neue Bäckerei direkt neben der alten gleichen Namens eröffnet. Die Ur-Filiale des Sultans ist ein typisch türkischer Fladenbrotladen und liegt weiter südlich. Die neuen Geschäfte geben sich international: Börek, Schrippen, Croissants, die Bedienungen tragen teils Kopftuch, teils keins und sprechen türkisch und deutsch. Ähnliche Entwicklungen haben viele Läden durchgemacht - alle wollen nach Norden an die Allee. So gibt es jetzt drei Hochzeitsgeschäfte in direkter Nähe, etwas weiter drei Shisha-Bars. Ecke Pannierstraße steht an gleich drei Läden "Spätkauf". Das Basarprinzip: Wo einer Erfolg hat, wird bald der nächste eröffnen. Lohnt sich dieser Kampf um den besten Platz an der "Sonne"?

König der Sonnenallee

12 Uhr. Das Paradies an der Sonnenallee heißt "Galerie El-Salam Style" und hat ab zehn Uhr geöffnet. Ein Einrichtungsgeschäft mit glitzernden Kristalllüstern, viel Stuck und Gold, strassverzierten Couchgarnituren und allerlei Nippes, der in goldener Schrift die Namen Allahs und seines Propheten trägt. Auch das Paradies ist von einem früheren Standort nach Norden gezogen. Die Omairats sind in der zweiten Generation hier an der Allee, sagt Inhaber Shukry Omairat. Und erfolgreich. Seit dem Tod des Vaters führt er das Einrichtungsgeschäft und eine Bäckerei, sein Bruder eine Fleischerei und eine Shisha-Bar. Grundstein des Erfolgs war die XXL-Variante der süßen arabischen Torten. Omairat arrangiert sie zu riesigen Türmen, die Luxusversion in XXXL mit echtem Wasserfall kostet 1000 Euro. So wurde er Tortenkönig von Neukölln. "Heute liefern wir bis nach Bremen oder Essen."

Omairat sorgt für neun Kinder plus Mutter und Schwiegermutter, die beide verwitwet sind. Erfolg ist das eine, was zählt an der Sonnenallee, das andere ist die Familie. Auch hier gilt das orientalische Prinzip, das deutsche Sozialexperten zur Verzweiflung treibt: je größer, desto besser. Die Großfamilie lebt parterre im Süden Neuköllns. Fünf Zimmer, zehn Personen, das abgelebte Treppenhaus lässt nicht ahnen, was sich hinter der Wohnungstür verbirgt: goldverzierte Decken, Glitzer und arabische Muster - das Orient-Paradies im Kleinformat. Nicht die Verhältnisse des Tortenkönigs sind XXL, sondern sein Traum vom besseren Leben.

Omairat war sieben, als er mit seinen Eltern nach Baden-Württemberg kam. Der einzige Ausländer in der Klasse, so lernte er Deutsch. Seine Kfz-Lehre musste er abbrechen, als die Eltern umzogen, um an der Sonnenallee ihr Glück zu suchen. "Seitdem habe ich mich hochgearbeitet."

Seine 19-jährige Tochter, sagt Omairat, habe gerade geheiratet, "sie war verliebt und wollte es so", er schaut nicht glücklich. Und der älteste Sohn? "Er ist 18 und denkt vor allem an Sport." Er fügt hinzu, er wisse nicht, warum die Jugend an der Sonnenallee heute so anders sei als er im selben Alter.

Heute reist Omairat als Geschäftsmann nach China. Er begeistert sich für den Fleiß der Chinesen: "In der einen Stadt stehen ganze Hochhäuser mit Lampengeschäften. In der nächsten gibt es unendliche Auswahl an Couchgarnituren. Die Chinesen werden selbst mit Knöpfen Millionäre!" Auch die Chinesen wollen es XXL, allerdings, das sieht auch der Tortenkönig so, ist das Leben dort ein noch härteres Brot als an der Sonnenallee.

Wer integriert hier wen?

13 Uhr. Der Klang von Kirchenglocken mischt sich in den arabischen Pop aus den Shisha-Bars. Zwei bärtige Männer sitzen in langen Gewändern im Schuhladen "Neukölln Sport". "Shox" heiße das begehrteste Modell, erklärt der junge Verkäufer, sein Name: Ali. Er sagt, dass man Turnschuhe gut zur traditionellen Kleidung tragen könne. Sein älterer Freund heißt ebenfalls Ali, allerdings erst seit drei Jahren. Konvertit Ali, 65, stammt aus Hessen und lebt seit 30 Jahren in Berlin. Die Alis kennen sich aus der Moschee, sagen sie. Rund 20 Moscheen gibt es allein im näheren Umfeld, die Kirchengemeinden lassen sich an einer Hand abzählen.

Dann bricht Ali, der Ältere, auf zu einem Spaziergang an der Allee. Er grüßt oft, aber nicht alle erwidern den Gruß. Vielleicht ist sein Blick zu direkt, sein Schritt zu ausgreifend, getrieben von dem Wunsch, den hier fast alle haben - dazuzugehören. Wer integriert hier wen?

Die Frage wurde weltweit diskutiert, als arabische Händler zur WM eine riesige Deutschlandfahne an der Sonnenallee hissten wie ein haushohes Ausrufezeichen. Linke Aktivisten rissen sie zweimal herunter, unterstellten den Einwanderern deutsch-gestriges Gedankengut. Sogar das israelische Fernsehen kam. Die Fußballfans verteidigten sich: "Wir sind Deutsche, das hier ist auch Deutschland!" Mittlerweile liegt das Symbol im Schaufenster. Es soll für einen guten Zweck versteigert werden.

Berlin-Mythos, reloaded

14 Uhr. Eine Brigade blonder Bauarbeiter strebt auf ein rotes Schild zu: "City Chicken", darunter arabische Schriftzeichen. Die Männer sprechen polnisch und bestellen auf Deutsch. Ein junges Paar stellt am Tisch nebenan seine Rucksäcke ab, in der Außentasche der "Lonely Planet Berlin", sie küssen sich: am Ziel. Nebenan wirbt ein Schild: "Ferienwohnungen". Das ist neu. An der benachbarten Karl-Marx-Straße hat im Februar ein Backpacker-Hostel eröffnet, das Bett ab zehn Euro. Die Gäste kämen aus Kanada, Australien und den USA, heißt es am Empfang. Stören die Verhältnisse rundum? "Nein, die Touristen hätten es gern noch abgerissener und mit besetzten Häusern." Der Berlin-Mythos in seiner vierten Wiedergeburt: Nach Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ist jetzt Neukölln dran.

Onkel für jede Lebenslage

15 Uhr. Vor den Shisha-Bars leuchtet, wie bunte Punkte, Neuköllns Jugend in Basecap und Kopftuch. Sandy, Sara und ein junger Mann, der wiederum Ali heißt, inhalieren tief. Die Straße ist vernebelt mit den süßen Aromen der Wasserpfeifen. Sara, im blauen Kopftuch, ist die Wortführerin. "Wir chillen hier gern", sie lächelt. Auch sie jobbt in den Ferien im Imbiss von Verwandten. Für die Zukunft hat sie einen konkreten Plan. "Ich werd' Gerichtsmedizinerin." Die anderen kichern. Doch Sara bleibt ernst. Ein Onkel arbeite in dem Beruf, Leichen gewaschen habe sie auch schon. "Und wenn du das Studium nicht auf die Reihe kriegst?", fragt Sandy. "Dann mach' ich ein Beerdigungsinstitut auf."

Die anderen beiden schweigen auf die Zukunftsfrage. Was fehlt, um Jugendlichen, die solche Onkel nicht haben, eine Perspektive zu bieten? "Jugendzentren!", Sara und Sandy echauffieren sich im Chor. "Der Staat muss jungen Menschen Selbstvertrauen und Perspektiven geben."

Pioniere zwischen den Stühlen

16 Uhr. Der Verein "Blickwinkel" arbeitet genau daran. Den Raum haben die 25 Ehrenamtlichen sich selbst geschaffen, der Vereinsraum war ein Beerdigungsinstitut, der Vermieter froh, dass sie kamen und renovierten. Zwar nimmt der Besucher auf durchgesessenen Bürostühlen Platz, deren zweite Karriere als mildtätige Spende spürbar ist. Doch der Verein ist ein Erfolgsmodell. "Wir beraten bei Problemen und geben Nachhilfe, 50 Kinder kommen täglich", sagt Susanne Nadapdap vom Vereinsvorstand. "Für mehr reichen die Kapazitäten nicht". Geld von Staat oder Kirchen gibt es nicht, das neue Quartiermanagement um die Ecke ist offenbar an Zusammenarbeit nicht interessiert. Die Pioniere vom "Blickwinkel" nehmen auch im übertragenen Sinn einen Platz zwischen den Stühlen ein. "Wir sind preiswert und erreichen so Familien, die anderen Angeboten fern bleiben", sagt Nadapdap. Demnächst sei eine Müttergruppe geplant. Eine Gelegenheit, die stille Reserve der Sonnenallee zu aktivieren - die Frauen. Integration erscheint plötzlich als einfache Gleichung: von Angebot und Nachfrage.

Das alte Neukölln, das ganz alte

17 Uhr. Das alte Neukölln, das ganz alte, gibt es auch noch, auch wenn laut Statistik die Mehrheit im Viertel jung ist - zwischen 18 und 45 Jahren. Das alte Neukölln, es dreht sich zu Schlagermusik im "Ambrosius" um sich selbst. Das Lokal Ecke Reuterstraße war eine Bierschwemme, meist rammelvoll und später am Abend flog der eine oder andere Gast schon mal raus. Seit einigen Jahren hat ein Pizzeriawirt die Geschäfte übernommen. Seitdem heißt "Ambrosius" im Zweitnamen "Aquila" und es gibt Tischdecken.

Das alte Neukölln traf sich hier nachmittags zum Tanztee, auch dabei flossen Bier und Tränen, und heute - ist alles noch genauso. Das alte Neukölln, das ganz alte, heißt heute Charlotte und Helmut, sie 92, er 67 Jahre alt, in weißen Haaren und Hosen, so tanzen sie durch den Raum und den Tag und das Lied, das der DJ für sie auflegt: "Ich seh dich oft mit ihm / durch unsre Kneipen ziehn, / er hält dich fest in seinem Arm, / ist glücklich, denn du strahlst ihn an..."

Weserrakete schießt "Sonne" ab

19 Uhr. Die Parallelwelt der Sonnenallee heißt Weserstraße, ein Teil des neuen, angesagten "Kreuzkölln". Die Kneipen heißen hier "Kuschlowski", "O Tannenbaum" oder "Freies Neukölln", ein Spiel mit dem Eckkneipenambiente des alten Neukölln. Gäste sind Studenten, Künstler, zunehmend auch aus anderen Bezirken, und Touristen. Wenn besser gestellte Menschen in schlechtere Viertel drängen - ist das nicht eine Art Selbstheilung? Nein, sagen die Planer des Sanierungsgebiets und warnen vor der Verdrängung ärmerer Anwohner. Bürgermeister Buschkowsky, der das offene Wort liebt, entgegnet: "Eine gewisse Gentrifizierung würde dem Stadtteil sicher gut tun."

Planet Sonnenallee: Die einen bilden mit ihrem Lebensstil die Kulisse für die nächsten. Sogar die New York Times lobte kürzlich das neue Neuköllner Ambiente. Ähnlich sehen das auch die Kommunikationsdesignerin Eva Kuch (33) und der Betriebswirt Hamit Özbek (36). Sie stammt aus dem Westerwald, er aus Kreuzberg. Beide zogen wegen der preiswerten Mieten her. Vor drei Jahren erfanden sie die "Weserrakete", ein kleines, exklusives Musikfestival in den Szenekneipen der Straße. Eine Alternative zur "singenden, klingenden Sonnenallee", jenem Straßenfest, das Buschkowsky vergangenes Jahr abschaffte, weil es geprägt sei "von ambulantem Gewerbe, Alkohol und aggressivem Verhalten?"

Die beiden schütteln die Köpfe. Die Weserrakete solle Künstler und Bewohner zusammenbringen und der musikalischen Avantgarde Neuköllns einen Auftritt geben, sagt Kuch. Beide bestätigen zwar, dass Räume für Künstler kaum noch zu finden seien, aber es klingt gelassen. Das Aufregende an Berlin sei, sagt Özbek, "dass es schon immer vor allem mit einem beschäftigt war - mit der Gegenwart."

Lila Schachteln für Ramadan

21 Uhr. Vor der Bäckerei Toprak ist die zweite Stunde der Frauen an der Sonnenallee angebrochen. Inhaberin Fatma Toprak sitzt mit Nachbarinnen, Freundinnen und einer Schar Kinder vor dem Geschäft. Gemeinsam falten sie lilafarbene Pappschachteln, ein ganzer Berg ist schon fertig. "Ab nächste Woche ist Ramadan", sagen die Frauen, "dann müssen Sie wiederkommen und sehen, was hier los ist!" Es ist eine freundliche Einladung. Seit 20 Jahren hätten sie ihr Geschäft hier, sagt Frau Toprak und lächelt, all das wird vorgebracht in radebrechendem Deutsch. Sprache ist an dieser Allee nur ein Werkzeug, nicht mehr, und die deutsche Kneifzange wird selten benötigt. Wie um das zu illustrieren, deutet eine der Frauen auf die Familie, die unter dem Baum vor der Bäckerei auf einem Mäuerchen sitzt. "Die Bulgaren treffen sich jeden Tag hier, aber wir kennen sie kaum. Die Mütter verstehen nur ein paar Worte Türkisch. Aber unsere Kinder spielen miteinander!"

Es gibt also einen Baum der Bulgaren. Und auch einen der Biertrinker. Der steht vor dem Nettomarkt Ecke Weichselstraße und hat von früh um sieben bis spät um 22 Uhr Konjunktur. Vor allem seit die meisten Geschäfte "halal" sind, also aus religiösen Gründen keinen Alkohol mehr verkaufen. Gegenüber bleiben zwei junge Touristen stehen und diskutieren auf Französisch: Ob die kurzberockten Biertrinkerinnen unter dem Biertrinkerbraum ein Fotomotiv sind? Von weitem erzählen Schminke, Springerstiefel und wirre Frisuren von den besseren Tagen des Punk in Berlin. Im Zoom der Kamera zeigen die Gesichter der Frauen, dass auch der Alkohol mit zu dieser Geschichte gehört.

Das letzte Gebet

22 Uhr. Bis spät am Abend sind die Bürgersteige voll. Alte Männer sitzen und rauchen, junge Leute räumen Lebensmittel in die immer noch offenen Läden. Plötzlich ein schrilles Hupen - auf einem Moped bahnen sich zwei Halbwüchsige den Weg durch die Menge. Alle weichen aus, niemand beschwert sich. Dann werden die Gespräche gedämpfter. Am Straßenrand hält ein silberfarbenes Auto. Ein junger Mann hält zwei älteren Herren mit Bärten und muslimischen Kopfbedeckungen die Autotür auf. Eine ehrerbietige, fast unterwürfige Geste. Wer sind diese Männer? Kurze Befragung der Umstehenden, betont gleichgültiges Schulterzucken. Das letzte Gebet in den Moscheen sei gerade vorbei, sagt einer. Als das Auto abfährt, schwillt der Lärm wieder an.

Autorität und Gesetz

24 Uhr. Polizeisirenen heulen auf und verklingen wieder. Die Einsatzwagen starten an der Polizeiwache Ecke Wildenbruchstraße, manche fahren nur um die Ecke zur Weserstraße, wo die Szenekneipen lärmen. Am Hermannplatz sind es tagsüber die alkohol- und drogenabhängigen "Gäste" des Wochenmarktes, die Verkäufern und Kunden auf die Nerven fallen. Und wieder und wieder muss die Polizei wegen der Dealer am benachbarten Kottbusser Damm anrücken. Kinder, die mit Heroin handeln, werden abgeführt und sind doch oft wenig später wieder da.

Der Polizeibericht von der Sonnenallee selbst erzählt weniger von Drogen und organisierter Kriminalität als eher vom Überlebenskampf der Verzweifelten. Wo zu viele Menschen mit zu wenig Geld und Perspektiven zusammen leben, werden Briefkästen aufgebrochen und nach EC-Karten durchsucht, gibt es Überfälle, illegalen Zigarettenhandel - "und häufig auch Einsatze wegen häuslicher Gewalt", sagt Polizeidirektor Hans Steffen vom Polizeiabschnitt 54 an der Ecke Wildenbruchstraße.

Neukölln, so steht es auf der Homepage des Abschnitts 54, "ist mit seiner wohl einzigartigen Mischung aus Bürgern verschiedenster Nationalität und Herkunft ein lebendiger und aufregender Bezirk. Die Mitarbeiter widmen sich den Problemen daher mit einem besonders hohen Maß an Toleranz, Offenheit und Bürgernähe". Doch wie kann man als deutscher Beamter die Hilferufe im Babylon der Sonnenallee überhaupt verstehen? "Wir arbeiten mit Dolmetschern", sagt Steffen pragmatisch, "denn nur zwei unserer 220 Beamten an der Wildenbruchstraße haben selbst einen Migrationshintergrund".

Je später der Abend, desto größer werden die Menschentrauben vor den Wettbüros: Männer. Die Glücklichen springen palavernd aus den Türen, die Verlierer verschwinden im Dunkel oder in den Bars - auch hier sitzen vorwiegend Männer. Nur vor einem Männercafé steht eine ältere Dame mit Kopftuch, nachdenklich schaut sie aus dem Dunkel durch die Tür ins Helle, wo die Männer sitzen, spielen und lärmen. Sie wird keines Blickes gewürdigt. Es gibt kein Gesetz, das einer Frau verbietet, diese Männerwelten zu betreten. Die Einhaltung der Regeln an Orten wie der Sonnenallee wird dennoch streng bewacht. Wenn auch nicht von staatlichen Autoritäten.

Zurück

Uta Keseling


Uta Keseling, geboren 1966, aufgewachsen in Marburg (Hessen), lebt seit 1987 in Berlin. Studium der Germanistik und Italianistik. Ab 1990 Studentin, freie Journalistin (und Taxifahrerin) in Berlin. Ab 1996 Volontariat an der Axel-Springer-Journalistenschule, seit 1998 Redakteurin bei Berliner Morgenpost und Die Welt. Nach fünf Jahren im Ressort Reportagen/ Magazin ist Uta Keseling seit 2008 verantwortliche Redakteurin im Ressort Berlin, Schwerpunkt Reportagen. Sie lebt in Berlin-Kreuzberg und der Uckermark (Brandenburg).
Dokumente
Das hier ist auch Deutschland

erschienen in:
Berliner Morgenpost,
am 08.08.2010

 

Kontakt: Reporter Forum e.V. | Sierichstr. 171 | 22299 Hamburg